Lesedauer: 13 Minuten
WISSENSWERTES Der Holocaust, ein industrialisierter Massenmord an den Juden während des Zweiten Weltkriegs, hat die deutsche Geschichte wie kaum ein anderes geschichtliches Ereignis geprägt. Einer daraus resultierenden Verantwortung der deutschen Bevölkerung sind sich die meisten von uns jedoch nicht bewusst.
WITTENBERG, 2018: Schüler des Luther-Melanchthon-Gymnasiums stellen Stelen in Gedenken der Opfer der Reichspogromnacht auf. Dennoch kennen viele nicht die genauen Hintergründe dieses tragischen geschichtsprägenden Ereignisses. Und das obwohl am 20.01.2022 der Beschluss der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ genau 80 Jahre her ist. Auf der Wannseekonferenz festgelegt, erreichte die systematische Judenverfolgung der Nationalsozialisten im Dritten Reich nun ihren Höhepunkt.
Dieses fiktive Interview mit dem Historiker Dr. Dan Diner soll über die genauen Ereignisse sowie historische Hintergründe des Holocaust berichten und einen Denkansatz für eine sehr bedeutende Frage liefern: Welche Bedeutung hat der grausame Völkermord für uns heute?
Das Thema Holocaust
Dr. Diner, Sie sind nicht Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig und ehemaliger Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur. Sie haben aber auch selbst eine persönliche Verbindung zum Thema Holocaust. Inwieweit?
Dr. Diner: Ich bin 1946 als Kind polnisch-litauischer „displaced persons“ geboren. Meine Eltern hatten ihre eigenen Familien während des Holocaust verloren und es fiel ihnen schwer, sich im Deutschland der Nachkriegszeit zurechtzufinden. Sie schafften es aber, mit mir für einige Jahre nach Israel auszuwandern.
Wie, würden Sie sagen, hat sich Ihre Kindheit auf Ihr späteres Leben ausgewirkt?
Meine Wurzeln und meine Verbindung zum Nahen Osten haben durchaus meine historische Neugier geweckt. Die Perspektive eines distanzierten Beobachters, die ich als Kind hatte, habe ich schließlich zu meinem Beruf gemacht. Da waren so viele offene Fragen, die zu beantworten meine Eltern nicht fähig gewesen waren.
Mit dem Holocaust haben Sie sich besonders intensiv beschäftigt. Bei diesem systematischen Völkermord kamen rund 6 Millionen Menschen ums Leben. Was, würden Sie meinen, ist besonders an diesem Ereignis?
Massenmorde in Form von Massakern hat es schon einige in der Geschichte gegeben. Beim Holocaust geschah aber etwas bisher Einzigartiges: Das systematische Vernichten von Menschen – allein des Vernichtens wegen. Vermutlich starben etwa zwei Drittel der Opfer in einem der zahlreichen Konzentrationslager (KZs) des NS-Regimes. Zu den berühmtesten dieser „Arbeits- und Vernichtungslager“ gehören u. a. Auschwitz und Buchenwald.
Zahlreiche Quellen belegen die Grausamkeit dieses Aktes, dem oft der Begriff „industrialisierter Massenmord“ zugeschrieben wird. Woher kommt diese Bezeichnung?
Ab 1942 liefen die Morde nicht nur systematisch, sondern sogar industriellen Methoden folgend ab. Bei der Tötung im Fließbandverfahren kamen auch chemische Waffen zum Einsatz, um so viele Menschen wie möglich gleichzeitig zu beseitigen. Beispielgebend hierfür sind die Gaswagen, in welchen Menschen eingesperrt und giftigen Motorabgasen (Kohlenstoffmonoxid) ausgesetzt wurden.
Diese hatten sich im Lauf der Jahre zu immer größeren Gaskammern entwickelt, wo man (u. a. in Auschwitz-Birkenau, Belzec oder Mauthausen) viele Opfer mit dem blausäurehaltigen Insektizid Zyklon B ermordete. Wer dort nicht direkt getötet wurde, litt unter systematischer Unterernährung, Zwangsarbeit, Folter oder Krankheiten. So dienten nicht wenige Menschen als „Menschenmaterial“ für grausame medizinische Experimente.
Höhepunkt der Judenverfolgung
Die genauen Opferzahlen des Holocaust sind unklar. Sicher belegt ist aber, dass der Großteil der Opfer Juden sind. Wieso?
Der geschichtlichen Entwicklung hin zum Holocaust lag die von den Nationalsozialisten entwickelte „Rassenlehre“ zugrunde. Danach war es der „arischen“ (deutschen) Rasse bestimmt zu herrschen, während die Juden als „geringerwertig“ betrachtet wurden. Die Rassenlehre war stets ein zentraler Bestandteil der Ideologie der Nationalsozialisten gewesen. Während ihrer Herrschaft in Deutschland 1933 – 1945 hatte sie sich besonders in der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung von Juden gezeigt, einem sich selbst radikalisierenden, nicht zwangsläufig zu Ende geplanten Prozess.
Nachdem die Rechte der Juden mit den Nürnberger Gesetzen 1935 immer weiter eingeschränkt wurden, folgte am 9./10. November 1938 die Reichspogromnacht, auch „Reichskristallnacht“ genannt. In diesem Terrorakt setzten SA- und NSDAP-Mitglieder Synagogen in Brand, zerstörten mehr als 7.000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und verwüsteten Wohnungen. In Folge der Ausschreitungen kamen ca. 1.300 Personen ums Leben.
Der eigentliche Holocaust fand erst während des Zweiten Weltkriegs statt, nachdem am 20.01.1942 auf der Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen worden war. Diese beinhaltete nun eben nicht mehr die bloße Umsiedlung oder Abschiebung von Juden in Ghettos, sondern deren gezielte Vernichtung.
Dieses biologistische Weltverständnis und das Streben nach „rassistischer Einheit“ werden heute von vielen Historikern als wichtige ideologische Voraussetzungen für den Holocaust gesehen. Welche weiteren Voraussetzungen hatten herrschen müssen?
Nun, auf die Umsetzung bezogen, haben wir ja schon auf die einfach technisch gegebenen Möglichkeiten verwiesen. Doch der Völkermord hatte auch der starken bürokratischen Strukturen des totalitären Staates bedurft. So war die moralische Distanzwahrung der Befehlenden nur durch die starke Arbeitsteilung aufrecht gehalten worden, ein komplexes System aus Entscheidungsstrukturen. Und nicht zuletzt hatte der Krieg den Holocaustverbrechern in die Karten gespielt. Diese unwirkliche Situation wird heute von vielen meiner Kollegen als „einmalige Gelegenheit“ bezeichnet.
„Einmalige Gelegenheit“. Warum?
Ich denke, der Historiker Götz Aly hat dies gut ausgedrückt, indem er sagte, der Krieg hätte „eine Atmosphäre des Nicht-Öffentlichen“ befördert, er „atomisierte die Menschen, zerstörte ihre noch vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen“. Dieser Wertebruch – auch in der Bevölkerung – hatte natürlich schon vorher eingesetzt, war aber im Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust zu seinem Höhepunkt gekommen.
Grundlegender Wertewandel
Sie sprechen von einem Bruch mit Traditionen. Wo genau setzen Sie diesen Begriff an?
Nun ja, nehmen wir die bürgerliche Gesellschaft als Beispiel. Vor der Zeit des Nationalsozialismus gab es gut bürgerliche Rechtsnormen im etablierten Sozialstaatssystem. Es hatten sich Werte wie eine freie Meinungsäußerung, die freie Marktwirtschaft und das freie Ausüben von Kunst und Wissenschaft herausgebildet. Aber auch Gleichheitsrechte herrschten, für Frauen genauso wie für ehemals diskriminierte Minderheiten.
Was wurde aus diesen Werten im Nationalsozialismus?
Jetzt löste man die bürgerliche Hierarchie von Besitz und Bildung durch einen totalitären Staatsapparat ab, der alle Lebensbereiche der Bevölkerung bestimmte. Rechtssicherheit wich staatlicher Willkür. Eine strenge und scharf nachverfolgte Zensur machte die Meinungsäußerung sehr gefährlich. Der Staat kontrollierte auch die Wirtschaft und verbreitete über ein ausgeklügeltes Propagandasystem seine eigenen „Wissenschaften“, die allerdings mehr auf ideologischen als wissenschaftlichen Grundlagen aufbauten.
Und ein Teil der NS-Ideologie war die Rassenlehre.
Richtig. So verschärfte sich der Antisemitismus. Aber auch andere gesellschaftliche Gruppen, prinzipiell alle, die als „Gemeinschaftsfremde“ galten, verloren ihre Rechte. Dazu gehörten Minderheiten wie Roma und Sinti ebenso wie Homosexuelle, Kriminelle oder „Asoziale“ (das sind Menschen ohne festen Wohnsitz). Erstere wurden schon frühzeitig als „Reichsbürger 2. Klasse“ bezeichnet und Zwangssterilisierungen sowie eigenen „Zigeunerlagern“ ausgesetzt. Die Liste der Nazi-Verbrechen an dieser Stelle ist lang. Weiterhin gab es da die körperlich oder geistig Behinderten, deren späterer grausamer Behandlung auch der Begriff „Euthanasie-Politik“ zugeschrieben wird.
Man geht davon aus, dass neben Juden 0,5 Millionen Sinti und Roma, bis 3 Millionen polnische und russische Zivilisten und über 3 Millionen russische Kriegsgefangene sowie etwa 100.000 Behinderte/Kranke durch die Hand der Nationalsozialisten umkamen. Doch ich schweife ab. Das Erschreckende an dieser Entwicklung war ja, dass ein Großteil der Bevölkerung die Einteilung in die verschiedenen Menschengruppen mit der Zeit als beinahe normal empfand. Es gab also eine fortschreitende Normalisierung eigentlich radikaler Ausgrenzung.
Eine neue Gemeinschaft
Was, meinen Sie, brachte denn die Bevölkerung dazu, bei dieser Ausgrenzung mitzuwirken? Schließlich konnte man sie nach ihren früheren Werten durchaus als aufgeklärte Menschen bezeichnen.
Ein wichtiger Aspekt war sicherlich der von der Propaganda verbreitete Gedanke der „Volksgemeinschaft“. Dieses Versprechen von einer klassenlosen Gesellschaft, politischer Einheit und einem nationalen Wiederaufstieg konnte große Teile der deutschen Bevölkerung mobilisieren. Dass diese „Gemeinschaft“ auch einen ausgrenzenden Charakter gegenüber Juden und Minderheiten hatte, war vielen zu Anfang vielleicht gar nicht so stark bewusst.
Was aber machte diese Anziehungskraft genau aus?
Nun, es entstand ein Gefühl von sozialer Gleichheit und individuellen Aufstiegschancen – auch wenn dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Frauen etwa sollten jetzt „der Vermehrung und dem Erhalt der Rasse“ dienen, Führungspositionen in Staat und Gesellschaft standen ihnen nicht zu. Mit Verbänden wie dem „Bund deutscher Mädel“ oder der „NS-Frauenschaft“ konnte man die eigentlichen nationalsozialistischen Absichten aber gekonnt verschleiern.
Loyalitätsgefühle zum Nationalsozialismus hatten zu großen Teilen auch der wirtschaftliche Aufschwung, der Abbau der Arbeitslosigkeit und wachsende Konsummöglichkeiten geweckt. Man darf ebenfalls nicht vergessen, dass diese Ein- und Ausschließungsprozesse ja durchaus auch eine emotionale Bindungskraft ausübten. Nur sehr wenige „reine Deutsche“ wollten ausgeschlossen werden aus der „Gemeinschaft“ und damit gleichzeitig auch die „Aufwertung der Volksgenossen“ missen. Unter „Gemeinschaftsmitgliedern“ herrschte also durchaus Moralität und Sozialität.
Auch die Propaganda scheint ihren Teil beizutragen. Sie haben bereits von einem „ausgeklügelten Propagandasystem“ gesprochen.
Die Propaganda galt damals als das wichtigste legale Mittel, um die Massen zu bewegen und die NS-Ideologie zu verbreiten. Mit modernsten Medien, Bauwerken, Rundflügen usw. konnte die Regierung nicht nur ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen. Man konnte mit der Sprache auch gezielt verschleiern oder abstumpfen. So klingt „Endlösung der Judenfrage“ wohl sehr viel positiver als „Judenvernichtung“. Hitler zum Beispiel war als Propagandagesicht besonders berühmt für seine rhetorischen Überzeugungskünste.
Adolf Hitler wird in diesem Zusammenhang auch oft als „charismatischer Führer“ bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
Diese Sichtweise ist unter Historikern noch heute eine Kontroverse (umstritten). Doch ob er jetzt tatsächlich magische Fähigkeiten hatte oder nicht: Fest steht, es herrschte eine gewisse „Glaubensbereitschaft“ der Bevölkerung in den großen Führer und eine allgemeine Akzeptanz der absoluten Führerautorität. So gab man quasi auch die zuvor herrschenden demokratischen Werte der Weimarer Republik auf.
Gewiss hatte die Weimarer Republik auch Schwächen, welche die Nationalsozialisten gezielt ausnutzten. Doch nahm man die Diktatur wirklich einfach so hin, die Rassenlehre, die Ausgrenzung? Gab es keinen Widerstand?
Natürlich gab es Widerstand. Doch das NS-Regime hatte bereits vor seiner Machtübernahme darauf geachtet, möglichst alle politischen Oppositionen und Gegner auszuschalten. Jeder Andersdenkende wurde streng überwacht, verfolgt oder sogar erschossen. Viele Menschen zogen sich daraufhin einfach zurück oder versuchten, Aspekte wie Ausgrenzung aus ihrem Leben auszublenden.
Wirkliche Bedeutung erlangte der aktive Widerstand so erst während des Zweiten Weltkriegs, als sich die Lage zuspitzte. Es bildeten sich Kreise aus Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Kirchen, Studenten usw. Selbst einzelne hohe Offiziere, etwa der Wehrmacht, schlossen sich dem Widerstand an. Ihre politischen Aufrufe, Putsch- und Attentatsversuche blieben jedoch bis 1945 quasi wirkungslos.
Von nichts gewusst
Ein Großteil der Bevölkerung behauptete damals, von all den schrecklichen Verbrechen nichts gewusst zu haben. Ist das eine glaubhafte Aussage?
Zwar gab es damals nicht die technischen Informationskanäle wie heute, doch trotzdem kann man behaupten, dass durchaus ein Teil der Bevölkerung Bescheid über den Holocaust wusste oder zumindest eine Ahnung hatte. So fiel es natürlich auf, wenn Nachbarn oder Mitschüler plötzlich aus dem Leben verschwanden. Stadtverwalter strichen ihre Namen aus den Adressbüchern. Lokführer fuhren die Deportationszüge zu den KZ’s. Hafenarbeiter halfen beim Verladen zahlreichen jüdischen Eigentums, das billig verkauft wurde.
Wehrmachtssoldaten erzählten von den Gräueltaten innerhalb der Kriegsführung gegen den Osten. Auch Arbeiter in unmittelbarer Nähe zu den KZ’s können nicht nichts mitbekommen haben. Vermutlich hatte sich also ab ca. 1942 durch Gerüchte ein allgemeines Wissen über die Lager und allgemeine Judenvernichtung verbreitet.
Und trotzdem bleiben die Deutschen bei ihrer Version, von nichts gewusst zu haben.
Das spielt in die Frage der individuellen Verantwortung für dieses Ereignis ein. Wenn man nämlich sagt, man habe davon gewusst, kommt zugleich die Frage auf, warum man denn nichts dagegen getan habe. Dies führt wiederum zur Debatte über den individuellen Handlungsspielraum … Letztendlich, wir kennen ja menschliche Eigenschaften ganz gut – das hat der Historiker Peter Longerich herausgehoben – gibt es ja auch einen Unterschied zwischen „wissen können“ und „wissen wollen“. Warum sollte ich mir mit Gedanken über solch grausame Gerüchte das Leben schwermachen, wenn ich selbst damit nicht viel zu tun hatte?
Zivilisationsbruch
Mit der gegenwärtigen Bedeutung ebendieser Frage beschäftigen Sie sich ja sehr intensiv. In Ihrem Werk „Gegenläufige Ereignisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust“ prägen Sie vor allem den Begriff des Zivilisationsbruchs. Was meint dieser Ausdruck?
Die Vernichtung von fast 6 Millionen Juden verstieß gegen grundlegende moralische und vernünftige „Normen des menschlichen Zusammenlebens“, allen voran die Humanität. Diese Tatsache ist nicht zu bestreiten. Doch nicht allein die Brutalität und Gewalt stellten den Zivilisationsbruch dar. Vielmehr zerbrach eine bis dahin gehegte ontologische Sicherheit. Ich will sagen, dieser Akt abseits von Konflikt, Gegnerschaft oder politischer Feindschaft lag außerhalb dessen, was man vor dem Holocaust für möglich hielt. Dass die Nationalsozialisten sogar gegen das Interesse der eigenen Selbsterhaltung handelten, hatten nicht nur die Juden unterschätzt.
Immerhin fand hier ein rational geplanter und ohne Mitleid durchgezogener Massenmord statt – durchgeführt von einem hochzivilisierten Volk. Es ist zu vermuten, dass etwa 250.000 Deutsche und Österreicher direkt oder indirekt als „Täter“ beteiligt waren.
An die Aufarbeitung des Holocaust gehen viele Historiker im altbekannten Schema heran. Sie haben dies kritisiert. Warum?
Man kann den Holocaust nicht verallgemeinern und im ursprünglichen Sinn „historisieren“, während er gleichzeitig herausgehoben wird als DIE Geschichte der Deutschen. Auschwitz als Symbol der Naziverbrechen steht für den industrialisierten Massenmord und die Vernichtung der Vernichtung wegen; Prozesse, die mit unserem heutigen Denken kaum objektiv, allumfassend gedeutet werden können.
Und doch ist Auschwitz noch heute Ausgangspunkt für die aktuellen Debatten um das nationalsozialistische Erbe der Deutschen.
Auschwitz gilt bisher als präzedenzlos, unvergleichbar, einzigartig. Ich verwende in diesem Zusammenhang gern den Begriff „Singularität“. Doch der Holocaust ist nur bisher singulär, und das ist es, was ich hier festhalten möchte: er kann erneut geschehen.
Damit stellen Sie den Begriff in eine universale Dimension.
Ja, uns muss klarwerden, dass auch die heutige Gesellschaft Voraussetzungen für die Umsetzung von menschenvernichtenden Geschehnissen dieser Größenordnung liefern kann. Heute wie damals begründet man die Grundlagen des sozialen Handelns auf der Annahme einer gewissen Vernünftigkeit des Menschen. Was aber ist diese Vernünftigkeit, wenn man damals Menschen der Vernichtung wegen vernichtete?
Verantwortung
Sie wollen sagen, die Bundesrepublik Deutschland stellt ebenso Voraussetzungen für die Wiederholung dieses Ereignisses?
Nun, so würde ich das nicht ausdrücken. Es zeigt sich aber, dass kontingente Entwicklungen Einstellungen möglich machen können, die man vorher nie für möglich hielt. Antisemitismus ist bei uns heute kein stark in der Öffentlichkeit stehendes Problem.
Auch der Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland war bei Weitem nicht so aggressiv wie zu Ende der 30er Jahre, wurde aber mit der Zeit durch verletzten Nationalstolz, den der verlorene Erste Weltkrieg gebracht hatte, verstärkt. Dazu kamen wirtschaftliche Unsicherheiten wie etwa die Inflation von 1923, die Weltwirtschaftskrise 1929, die anschließende Massenarbeitslosigkeit und nicht zuletzt der Verlust der gesellschaftlichen Stabilität sowie die Angst der Mittelschicht vor der politischen Linken.
All diese Ereignisse, die sich zu großen Teilen während der ersten Demokratie Deutschlands ereigneten, haben die Bevölkerung erst empfänglich gemacht für die Ideen der Nationalsozialisten. Damit kommen wir wieder zurück zu meiner Zivilisationsbruch-These, welche den Holocaust mit einer Durchführung durch eine – die deutsche – „Kulturnation“ verbindet.
Das gibt zu denken auf, würde ich sagen. Noch abschließende Worte Ihrerseits?
Der Holocaust ist ein Ereignis von menschheitsgeschichtlicher Relevanz. Den Deutschen muss bewusst sein, welches „Vermächtnis“ die Nationalsozialisten hinterlassen haben. Die Debatte um die Bedeutung des Holocaust wird weitergehen. Und sie betrifft jeden Einzelnen von uns.
Vielen Dank, Professor Dr. Diner. Ich möchte das Gespräch an dieser Stelle gern mit einem Zitat aus einem Ihrer früheren Interviews beenden: „Die Aufarbeitung, die Beschäftigung mit dem Holocaust ist auch, wenn man so will, Teil eines Zivilisierungsprojekts Deutschlands geworden.“
Es ist entsprechend keine alleinige Thematik für Geschichtsinteressierte, sondern zeigt sowohl im individuellen als auch im gesamtvölkischen Bereich eine hohe Wichtigkeit im Sinne der Zivilisierung. Somit war auch die Unternehmung der Wittenberger Schüler 2018 keinesfalls vergeudet, nur weil sich nicht alle mit den Beweggründen dahinter identifizieren konnten. Es war ein kleiner Schritt der Aufarbeitung. Ein kleiner Schritt eines großen Zivilisierungsprojekts.
Für Interessierte gibt es hier mehr Infos zum Holocaust bzw. zur Judenfeindlichkeit.