Lesedauer: 7 Minuten
ETHIK ERKLÄRT – TEIL 2
WISSENSWERTES Zu Diskussionen zwischen Utilitaristen, Diskursethikern und Anhängern von Kant hat auch die zweite Kant’sche Frage geführt: Was soll ich tun? Wir Menschen brauchen moralische Prinzipien, um in bestimmten Situationen schnell und gut reagieren zu können.
Laut Gilbert Harman (1938 – heute) gibt es kein universelles moralisches Prinzip, das für jede Situation in gleicher Weise funktioniert. So muss nicht, wenn sich zwei Handlungsprinzipien widersprechen, eines davon falsch sein. Doch welche grundlegenden Prinzipien gibt es eigentlich und welches davon ist das Beste? Im Folgenden möchte ich eine deontologische (Kant) und eine teleologische Ethik (Utilitarismus) vorstellen und auf moralische Werte im Allgemeinen eingehen.
Immanuel Kant: vom guten Willen bis zum kategorischen Imperativ
Immanuel Kant (1724 – 1804) vertrat eine deontologische Ethik (Pflichtethik), d. h. für ihn zählte zunächst nur die gute/moralische Absicht, während die Folgen einer Handlung eher zweitrangig waren. Gute Gründe beschrieb er als objektiv und vernünftig: alle Neigungen seien außen vor und man handele aus Pflicht* ohne bestimmten Zweck. Wenn also alle die Handlungsgründe für gut und ausnahmslos geltend akzeptieren, dann entstehen ein guter Wille und eine moralische Handlung.
*Pflicht war bei Kant die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das moralische Gesetz. Für ihn galt also nicht das pflichtmäßige Handeln als moralisch, sondern erst das Handeln aus Pflicht (durch innere Übereinstimmung mit den moralischen Gesetzen).
Beispiel: Ich fahre vor der Schule nur 30 km/h, weil dort ein 30er-Schild ist und ich weiß, dass dort hinten ein Blitzer steht – wäre pflichtmäßiges Handeln aus Eigeninteresse heraus. Ich fahre vor der Schule nur 30 km/h, weil ich so die Sicherheit der Schulkinder garantiere – wäre ein Handeln aus Pflicht.
Kant glaubte an die Autonomie des Willens beim Menschen und begründete damit die Menschenwürde. Diese Freiheit sei erst der Ursprung von Moral und Sittlichkeit, allein deswegen könnten wir Kraft ihrer Vernunft Gesetze festlegen und sie befolgen. Wir seien in der Lage, Gesetze als subjektive Prinzipien des Handelns (Maxime) festzulegen. Und mit diesen selbst gefundenen, überprüften Maximen nähmen wir Anteil an universellen, objektiven Prinzipien.
Das in diesem Zusammenhang wichtigste, von Kant entwickelte objektive Prinzip ist hierbei der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Er ist eine moralische Handlungsanleitung, die ohne Bedingungen immer und für jede Person gilt (deswegen: kategorisch -> Gegenteil wäre der hypothetische Imperativ) und besteht grundsätzlich aus vier Stufen:
- Handlung formulieren: „Ich möchte im Ethiktest spicken.“
- Maximenbildung: „Betrügen in Tests ist nicht verwerflich.“
- Verallgemeinerung: „Alle müssen in jedem Test spicken.“
- Maximenprüfung: „So verlieren Leistungskontrollen ihren Sinn. -> Die Maxime ist in sich widersprüchlich. -> Die Handlung ist moralisch falsch.“
Es gibt noch andere Formulierungen dieses Moralprinzips, so etwa die Menschheits-Zweck-Formel, welche sich auf der Menschenwürde begründet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst.“
Kritisiert wurde der Kategorische Imperativ u. a. dafür, dass die moralische Absicht nicht immer überprüfbar ist, dass es sich quasi um eine leere Formel handelt und dass keine moralische Motivation nötig ist.
Stellt man einen Vergleich zur Goldenen Regel auf, ist festzustellen, dass beides moralische Metaregeln ohne konkreten Inhalt vorgeben; jedoch beurteilt die Goldene Regel die Folgen der Handlung subjektiv als Verbot und bringt eine gewisse Erwartungshaltung mit (anderen wird meine Sichtweise aufgezwungen), während der Imperativ objektiv die Absicht der Handlung beurteilt und ein Gebot ausspricht.
Utilitarismus: Nützlichkeitsprinzip
Der Utilitarismus ist eine teleologische Ethik (Zweckethik) und orientiert sich am Abwägen der Konsequenzen. Er entscheidet dabei nach dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche (nicht absolute) Anzahl an Betroffenen. Ein Utilitarist sucht also immer nach der Handlung, deren Folgen für das Wohlergehen (der Mehrheit) aller Betroffenen optimal sind; er richtet sich nach dem Glück als reelles, menschliches Ziel.
Nachteile sind natürlich das Unglück der Minderheit, aber auch, dass unmoralische Grundsätze durch eine Mehrheit legalisiert werden können. So könnten beispielsweise gute Folgen (wie Reichtum für die Allgemeinheit) einen Krieg rechtfertigen. Zudem sind die Folgen ja keineswegs immer abzusehen.
Beispiel: Müsste man einen kranken Menschen sterben lassen, um zehn anderen, die sonst in jedem Fall sterben würden, das Leben zu retten, würde ein Utilitarist nicht lange zögern und den einen Menschen töten. Das Problem dabei: Selbst wenn der eine Mensch gesund wäre und eigentlich überleben könnte, würde der Utilitarist ihn zum Nutzen der Mehrheit töten – was dem Gutsprechen eines Mordes gleichkommt.
Der Utilitarismus spaltet sich in verschiedene Unterarten auf. Zu nennen wäre hier etwa der quantitative Utilitarismus von Jeremy Bentham (1748 – 1832). Dieser stellt alle menschlichen Freuden auf eine Ebene, sodass sie gleich viel wert sind. Kritik kommt von John Stuart Mill (1806 – 1873) mit seinem qualitativen Utilitarismus. Sinnliche Freuden sollten nicht als Handlungsziel gelten, sie hätten einen geringeren Wert als etwa geistige Freuden. Darum solle man nach Mill sein Handeln nach Freuden mit höherer Qualität ausrichten. Dies wiederum, lässt sich kritisieren, würde bedeuten, dass Gebildete, welche höhere Ansprüche an das Glück haben, über Freuden bestimmen würden. Weitere Unterarten sind:
- Präferenzutilitarismus (Peter Singer): Entscheidung nach Präferenzen aller Betroffen -> Kriterien nach Selbst-Bewusstsein, d. h. die Meinung eines Menschenaffen kann mehr wert sein als die eines behinderten Kindes
- Regelutilitarismus (John Stuart Mill): Einordnung der Handlung in einen Handlungstyp und Entscheidung nach einer allgemeinen Regel/einem Moralkodex (aber: kein Fortschritt)
- Handlungsutilitarismus (Jeremy Bentham): Abwägen der möglichen Folgen einer konkreten Einzelhandlung
Das Modell der Moralstufen von Lawrence Kohlberg (1927 – 1987)
Zu welchem der beiden moralischen Prinzipien wir tendieren (oder ob wir uns eher mit Diskursethikern oder noch anderen Prinzipien identifizieren können), hängt davon ab, wo und in welchem Umfeld wir aufwachsen und wie alt wir sind – so zumindest lautet die Theorie von Kohlberg in seinem Moralstufen-Modell, welches ich im Folgenden tabellarisch dargestellt habe. Es besagt, dass unser moralisches Denken sich im Verlauf unseres Lebens immer weiterentwickelt, und zwar auf 3 Ebenen in 6 Stufen:
präkonventionell (Rkt. auf gut/schlecht) | Orientierung an Strafe und Gehorsam (1) | materielle Folgen entscheiden, keine Werte (Wie kann ich Strafe vermeiden?) |
instrumentell-relativistische Orientierung (2) | instrumentelle Befriedigung (von sich selbst oder anderen) -> materielle Auslegung von Werten (Was springt für mich heraus?) | |
konventionell (Bemühen, Ordnungen und Erwartungen zu erfüllen) | zwischenmenschliche Harmonie (3) | Absicht findet Zustimmung bei anderen (Was halten andere von mir?) |
Gesetz und Ordnung (4) | Pflichten, Respekt vor Autoritäten und Sozialordnung (Wie kann ich Recht und Ordnung aufrechterhalten?) | |
postkonventionell (eigene Werte finden) | legalistische Sozialvertrags-Ordnung (5) | allgemeine Individualrechte und Standards -> Hinterfragen des Inhalts und ggf. Konsens finden (Dient eine Regel wirklich allen Mitgliedern der Gesellschaft?) |
universelle ethische Prinzipien (6) | Gewissensentscheidungen des unparteiischen, vernünftigen Beobachters nach selbstgewählten Prinzipien (Welche Werte machen für mich Gerechtigkeit aus?) |
Kritik an dem Modell äußerte u. a. Otfried Höffe (1943 – heute):
- für Utilitaristen ist 5. Stufe ausreichend, Diskursethiker fordern 7. Stufe
- bei 6. würden eigene Interessen immer im Hintergrund stehen
- nicht jeder erreicht 5./6. Stufe
- unterschiedliche Kulturen: nicht immer ist Autonomie (6. Stufe) erstrebenswert
Monika Keller beurteilt diese Moralstufen positiver. Sie sagt, dass ein Perspektivenwechsel zwischen den Stufen bei Konflikten versch. moralischer Verpflichtungen helfen könne, um eine gerechte Lösung zu finden. Zudem sei man mit den 6 Stufen zunehmend in der Lage, die Komplexität moralischer Probleme zu erkennen und ein eigenes „moralisches Selbst“ zu bilden.
Gründe für moralisches Handeln kann man laut Nico Scarano (1965 – heute) dem Externalismus und dem Internalismus zuordnen. Beim Externalismus sind außermoralische Quellen der Motivation (etwa Sanktionen, Belohnung/Anerkennung, Gefühle wie Mitleid) nötig, während bei Internalismus moralische Gründe von sich aus motivierend sind, weil der Zusammenhang zwischen den moralischen Gründen und den Handlungsmotiven erkannt wurde.
Nietzsche: „Moralische Prinzipien sind nihilistisch!“
Eine ganz andere Meinung vertrat der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 – 1900). Er bezeichnete die der abendländischen Kultur zugrundeliegende Moral als „nihilistisch“ (nichts wert, von nihil = nichts) und sah es als „Versicherung des Lebens“ an, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und alle Prinzipien anzuzweifeln sowie die jetzige Moral gänzlich zu verneinen. Nietzsche hielt nichts von einem tugendhaften (apollinischen) Leben, stattdessen lebte er rauschhaft (dionysisch). Er war jedoch kein Nihilist, der Moral grundsätzlich ablehnte.
Ihm zufolge sei der Mensch „jenseits von Gut und Böse“ und unfähig zu moralischen Entscheidungen. Trotzdem gebe es menschliche Moralbedürfnisse durch das Streben nach Normen und Regelmäßigkeit. Moralisten nennt er „Bauern des Geistes“. Sie hätten den Willen, etwas Moralisches zu ernten, was sowieso irgendwann die Fruchtbarkeit verliert (Werte verändern sich).
Nietzsche unterscheidet zwischen einer Herren- und einer Sklavenmoral. Zur Herrenmoral gehören diejenigen wenigen Menschen, welche tapfer, mächtig, tüchtig, frei und rücksichtslos handeln. Menschen der Sklavenmoral hingegen sind schwach, feige, tugendhaft, mitleidig und unterwürfig. Sie haben die heute geltende, unnatürliche Moral aufgestellt – welche letztendlich zur Stagnation der Gesellschaft und zum Zerfall der Menschheit führen wird.
Der Mensch soll seine moralische Zwangsjacke ablegen und nur nach dem eigenen Geist leben (-> Umwertung aller Werte), so braucht eine funktionierende Gesellschaft sowohl die „Herren“ (vgl. „Übermensch“) als auch die „Sklaven“ (vgl. „Herdenmenschen“). Sie bedingen einander, denn es liegt nicht im Wesen des Menschen, dass alle gleich sind. Diese Entwicklung stellt er auch in seiner Parabel „Von den drei Verwandlungen“ (des Geistes) dar: Zunächst ist der Mensch ein Kamel (ausgezeichnet durch Glaube, Demut, Schlichtheit, Nächstenliebe), dieses wandelt sich bald zum Löwen (welcher für Freiheit und Selbstbestimmung und ein Nein zur Moral steht) und letztendlich zum Kind (dieses ist unschuldig, kann vergessen und neu beginnen, neue Werte aufstellen). Es geht also um einen Prozess: Erdulden – Ausbrechen – Neuanfang.
Jetzt kannst du überlegen: Wenn du ein komplett neues System aus Normen aufstellen könntest, nach welchem moralischen Prinzip würdest du dich richten? Oder fallen dir ganz neuartige Werte ein?