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WISSENSWERTES Von der Garnisonsstadt zu einem überregional einflussreichen Industriestandort – Wittenbergs Wandel zu der Industriestadt, die sie heute ist, hat erst spät eingesetzt, war dann jedoch nicht mehr aufzuhalten. Seine Entwicklung während der Industrialisierung hat sich besonders deutlich im heutigen Ortsteil Piesteritz anhand der „SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH“ gezeigt.
Erst mit dem Befehl der Entfestigung der Stadt Wittenberg am 30.05.1873 setzte die Industrialisierung in diesem Raum ein. Nun konnte sich Wittenberg nach Westen und Osten ausdehnen, die Baubeschränkungen im Umland waren größtenteils aufgehoben. Günstige Verkehrsbedingungen, vorhandene Arbeitskräfte und die Möglichkeit der Elektroenergieerzeugung aus Braunkohle im Bitterfelder Revier boten gute Standortbedingungen für Unternehmen. Besonders der Ausbau des Elbhafens als Umschlaghafen vom Wasser auf die Schiene im Jahr 1883 sowie Wittenbergs Lage an der Hauptverkehrsader Berlin-München und der Güterumgehungsbahn für Berlin wirkten sich positiv auf die Stadt Wittenberg aus.
So siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts dann auch mit der „Eisenwerk Joly Wittenberg KG“, der „Gummiwerke ELBE AG“, der „Kant Chokoladenfabrik AG“ (heutige „Wikana Süß- und Dauerbackwaren GmbH“) und der „Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoff AG“ (WASAG) große industrielle Firmen an. Ein wichtiger Chemiestandort wurde Wittenberg aber erst, als das Reichsschatzamt die Bayerische Stickstoffwerke AG mit dem Bau eines neuen Werks beauftragte.
Warum ausgerechnet die Stickstoffwerke eine so große Bedeutung für Wittenbergs Industrialisierung hatten und wie sich das Werk speziell auf Piesteritz ausgewirkt hat, darum soll es in dieser geschichtlichen Darstellung gehen. Außerdem werde ich erläutern, welche naturwissenschaftlichen Grundlagen nötig waren, dass es überhaupt soweit kommen konnte.
Ursprünge des Industrieriesen
Die Entscheidung für den Standort des neuen Stickstoffproduzenten fiel auf Piesteritz. Der Vertragsabschluss zur Gründung der „Reichsstickstoffwerke Piesteritz“ erfolgte zwei Wochen vor Baubeginn am 15. März 1915.
Innerhalb von neun Monaten sollte eine Fabrik mit Kosten von 8,6 Millionen Goldmark nach Plänen von Karl Janisch entstehen. Dazu verkauften Bauern insgesamt 240 Morgen (60 Hektar) Land, Nadelwald wurde niedergelegt und planiert, bevor Wittenberger Kriegsgefangene mit dem eigentlichen Aufbau begannen.
„Die letzten vorhandenen Waldstücke verschwanden, und die Gegend verlor endgültig ihren ländlichen Charakter. Die Gemeinde Piesteritz wurde zu einem ausgesprochenen Industrieort.“
Die Energieversorgung kam vom 25 km entfernten Braunkohlekraftwerk Golpa, dazu war in Rekordschnelle ein Großkraftwerk in Zschornewitz gebaut worden, das noch im Jahr 1915 fertiggestellt wurde. So konnten die Stickstoffwerke dann bereits zu Jahresende den Betrieb voll aufnehmen und am 14. Januar 1916 erstmals Kalkstickstoff herstellen.
Dies war auch dringend nötig, da der Rohstoffbedarf während des Ersten Weltkriegs stark angestiegen war, zumal Chilesalpeter als Dünger durch die britische Seeblockade ausgefallen war. Zwar war das Verfahren zur Herstellung von Kalkstickstoff aus dem Stickstoff der Luft bereits entwickelt worden, die Produktion in den riesigen, für den Krieg benötigten Mengen (150.000 Tonnen pro Jahr sollten hergestellt werden) war jedoch neu.
Kalkstickstoff ersetzte Salpeter und konnte als Schießpulver und später als Düngemittel verwendet werden, zudem war es wichtig zur Herstellung von Ammoniak. Die Herstellung erfolgte nach dem Frank-Caro-Verfahren. Nach einigen Erweiterungen konnte das Werk 1918 schließlich neben Kalkstickstoff auch Calciumcarbid, Ammoniak, Salpetersäure, Ammoniumnitrat und Natriumnitrat herstellen.
TECHNISCHE FAKTEN. Die Reichsstickstoffwerke enthielten 1915 folgende Großanlagen:
Nach dem Ende des Kriegs erfolgte 1920 die zwangsläufige Privatisierung und Umbenennung des Werks in die „Mitteldeutsche Stickstoffwerke AG Piesteritz“, die Verwaltung selbst blieb jedoch zunächst in den Händen des Reichsschatzamts. 1923 wurde es zusammen mit der Bayerischen Kraftwerke AG, der Bayerischen Stickstoffwerke AG und dem Werk Chorzow in die vom Deutschen Reich neu gegründete „Vereinigte Industrie Unternehmungen AG“ (VIAG) eingegliedert. 1926 sollte es an die Bayerischen Stickstoffwerke AG verpachtet und 1933 Teil dieses Unternehmens werden.
Während der Anfangsjahre wurden die SKW immer weiter ausgebaut und zum Beispiel um vier große Phosphoröfen (1927) oder eine Großanlage zur Produktion von hochkonzentrierter Salpetersäure (1936) ergänzt, sodass die durch die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens ineffektiv gewordene Ammoniakherstellung ausgeglichen wurde. So konnte sich das Werk bis heute durch seine „Spezialitätenpalette“ und seine vielfältigen Möglichkeiten, aber auch seine Rolle für das Sozialgefüge „Stadt Wittenberg“ auszeichnen.
Wohnungsbau für die Arbeiter
Mit dem Bau der Reichsstickstoffwerke kamen Tausende von Arbeitssuchenden aus strukturschwachen Regionen wie Bayern, Schlesien oder Westfalen nach Piesteritz.
„In dieser kleinen Barackenstadt war immer ein reger Zuzug von Menschen aus allen Gegenden Deutschlands … aber viele sind wieder von dannen gezogen, außer einigen wenigen.“
Die Arbeit im Werk war monoton und schmutzig. Von guten Lebensbedingungen in Piesteritz kann man zu diesen Zeiten noch nicht sprechen. Um die notwendige Stammbelegschaft trotzdem an sich zu binden, führten die Stickstoffwerke ein recht umfangreiches Sozialprogramm für die Arbeiter ein, das unter anderem eine Kantinenversorgung und einen Werksarzt umfasste. Die Bezahlung war vergleichsweise hoch, zudem waren die durch das sogenannte Krümpersystem möglichen gleitenden Arbeitszeiten angenehm, welche sich dem Produktionsrhythmus des Werks anpassen konnten. Ebenfalls ungewöhnlich war die vorangegangene Berufsausbildung, da es sich als schwierig herausstellte, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.
Zum Sesshaftwerden der Arbeiter förderte das Werk auch den Wohnungsbau.
Tatsächlich hatte sich die Zahl der Bewohner von Piesteritz innerhalb von 10 Jahren von 2.358 auf 5.800 Menschen mehr als verdoppelt. Die vorhandenen Wohnungen reichten nicht aus, auch wenn alle bewohnbaren Räume des Orts im „Schichtrhythmus“ genutzt wurden und manche Piesteritzer Familien sechs bis acht sogenannte „Kostgänger“ gegen geringe Miete aufnahmen. Die von den Stickstoffwerken schnell errichteten Wohnbaracken (daher die Bezeichnung „Barackenstadt“) beherbergten zwar ganze Familien, jedoch auch unter schwierigen Lebensbedingungen.
„Durch die Errichtung der Reichsstickstoffwerke kam ein solcher Zuzug von Menschen, dass die Wohnungsnot ins Unermessliche stieg.“
Etwas Abhilfe sollten der Bau der Siedlung „Sachsenland“ für WASAG-Mitarbeiter und der heute denkmalgeschützten „Piesteritzer Werkssiedlung“ schaffen, die 1919 nach drei Jahren Bauzeit etwa 400 Wohnhäuser für 2.000 SKW-Mitarbeiter auf einer Fläche von 12 Hektar bot und durch ein eigenes Wasserwerk mit Trinkwasser versorgt wurde.
Die kleine „Gartenstadt“, entworfen von Paul Schmitthenner und Otto Rudolf Salvisberg, war außergewöhnlich, denn sie beherbergte gleichermaßen Arbeiter und Vorgesetzte, die in ihrem Garten selbstständig Obst und Gemüse anbauen konnten. Mit seinem Kaufhaus, der Apotheke, der Schule, den Gemeinschaftsräumen und letztendlich einer Kirche für die vorwiegend katholischen Arbeiter hatte die Siedlung eine moderne Infrastruktur, die auch nötig war, schließlich lagen die nächsten Einkaufsmöglichkeiten in der Wittenberger Innenstadt rund 6 km vom Werk entfernt.
Neues Sozialleben im ehemaligen Bauerndorf
Das Konzept ging auf: Viele Arbeiter ließen sich in Piesteritz nieder. 1924 machten sie mit 41 % schon fast die Hälfte der Piesteritzer Einwohner aus. Das veränderte auch das soziale Leben des einst so ruhigen Bauernorts stark. Mit den Arbeiterfamilien zog Unruhe ein, der Polizeischutz wurde aufgrund immer häufiger auftretender Straßenkonflikte erheblich verstärkt.
„Die Kaffees schossen wie Pilze aus der Erde. Es wurde viel Geld verdient und leicht wieder ausgegeben.“
Diese Entwicklung blieb auch der Stadt Wittenberg, welcher Piesteritz erst ab 1950 angehören sollte, nicht verborgen. Die alten Provinzstadtbewohner spürten den Zuzug der Arbeitermassen nun von allen Seiten. Auch mit dem Ausbau der WASAG in Reinsdorf waren Arbeiter gekommen, die immer mehr Geld für den Ausbau der sozialen Infrastruktur forderten. Das gefiel den evangelischen Stadtbürgern, denen mehr die Repräsentation Wittenbergs als Kulturstadt am Herzen lag, nicht. Um einem Verfall der Sitten vorzubeugen, wurden sogar separate Unterhaltungsabende für Arbeiterinnen veranstaltet, die aufgrund der langen Wege in die Wittenberger Innenstadt jedoch nicht gut angenommen wurden.
Piesteritz wurde durch den Ausbau der Infrastruktur zunehmend unabhängiger von Wittenberg. Zwar hatte sich das gemütliche Leben in „patriarchalischer Einfachheit“ aufgelöst, dafür entstand aber eine fortschrittliche Industriegemeinde. Bereits 1927 verfügte Piesteritz über ein Kino, drei Ärzte, einen Wochenmarkt, eine Badeanstalt, eine Turnhalle und einen Sportplatz sowie zahlreiche sportliche und politische Vereine. Eine Entwicklung, die sich neben dem „Roten Piesteritz“ – die sozialdemokratischen Arbeiter beeinflussten die politische Einstellung des Orts maßgeblich – in ganz Wittenberg zeigte und noch lange andauerte, denn die chemische Industrie sollte bis zum Zusammenbruch der DDR Hauptarbeitgeber der Stadt bleiben.
Wissenschaft als Grundlage für Piesteritz‘ Wandel
Letztendlich war es nur Glück, dass Wittenberg aufgrund seiner guten Standortbedingungen für den Bau der „Reichsstickstoffwerke“ ausgesucht wurde. Natürlich spielten auch andere große Chemieunternehmen wie die WASAG eine Rolle, doch die meiste Bedeutung als Industriestandort kommt Wittenberg heute durch das SKW zu, welches nicht nur der größte Ammoniak- und Harnstoffproduzent Deutschlands, sondern auch Magnet für zahlreiche andere Industrieunternehmen ist.
Sich selbst bezeichnet es auch gern als „Leuchtturm“ innerhalb ganz Deutschlands, schließlich gehöre es zu den innovativsten Mineraldüngerunternehmen Europas. Auf einer Werkfläche von 220 Hektar werden jährlich über 5.000 Tonnen an Produkten hergestellt und 850 Mitarbeiter beschäftigt. Zudem haben sich 30 weitere, vorrangig industrielle Unternehmen im 2005 gegründeten Agro-Chemie Park Piesteritz angesiedelt. Somit ist der Ort der wichtigste Industriesektor der Stadt – und das SKW das Symbol der Industrialisierung in Wittenberg.
Dass es soweit kommen konnte, hängt eng mit der gesellschaftlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen. Weitsichtige Chemiker hatten bereits früh erkannt, wie wichtig der aus Chile importierte Salpeter für die Düngemittel- und Sprengstoffherstellung war.
„Wenn heute ein Krieg zwischen zwei Großmächten ausbräche, von denen eine in der Lage wäre, die Ausfuhr von Salpeter aus den wenigen Häfen Chiles zu verhindern, so würde sie ihren Gegner nahezu kampfunfähig machen.“
Ostwald sollte recht behalten. Schließlich war es der Mangel an Chilesalpeter durch den Ersten Weltkrieg, der eine Alternative zu Salpeter notwendig machte. Diese sollte die erstmals 1905 in Norwegen praktizierte Herstellung von Kalkstickstoff aus der Luft sein.
Die Grundlage für dieses Verfahren war die Erfindung des vielfältigen Steinkohlenteers, welches zunächst Ausgangsstoff für Farbstoffe und Pharmaka, darunter auch Aspirin, war. Als Albert R. Frank 1901 jedoch durch Zufall erkannte, dass Calciumcyanamid im Boden zu pflanzenverfügbaren Stickstoffverbindungen umgewandelt und der so gewonnene Kalkstickstoff als wirksamer Stickstoffdünger eingesetzt werden kann, verstärkte sich die Bedeutung des Steinkohlenteers erneut.
Dünger wurde immer wichtiger, weil mit der einsetzenden Industrialisierung auch der Nahrungsmittelbedarf für die immer größer werdende Bevölkerung stieg, gleichzeitig jedoch durch die zunehmende Landflucht der intakte Kreislauf der Nährstoffentnahme zerstört wurde. Dass es bereits 1900 gelungen war, den reaktionsträgen Stickstoff mit hohem Energieaufwand zu binden, war aber auch nur aufgrund des erreichten Entwicklungsstands der Industrie und Technik, speziell der praktischen Anwendung der Elektrizität, möglich.
So waren die im 19. Jahrhundert entdeckten naturwissenschaftlichen Möglichkeiten und der Bedarf an Kalkstickstoff im Ersten Weltkrieg die Grundlage, dass sich mit dem heutigen SKW Piesteritz der größte Ammoniak- und Harnstoffproduzent Deutschlands entwickeln, somit auch die Stadt Wittenberg ihre heutige Bedeutung erlangen und – nicht zu vergessen – Piesteritz sich in so kurzer Zeit zu einer modernen Industriegemeinde entwickeln konnte.
PS: Wie ich das Fach Geschichte lieben gelernt habe, kannst du hier nachlesen. Für Chemieinteressierte geht es hier entlang zum Doppelkontaktprozess.
Existieren keine Berichte, Dokumente, Fotos, Namenslisten vom Stickstoffwerk, bzw. IG Farbwerke Hochofenanlage Piesteritz aus den Jahren 1927 bis in die Nachkriegszeit 1945/1946
Warum mein Interesse?
Ich, 1930 in Wittenberg geboren, bin in Piesteritz aufgewachsen. Mein Vater, Chemiker
Dipl.Ing. Georg Bartels war während des 2. Weltkriegs bis 1946 als Betriebsleiter des Hochofenbetriebes dort beschäftigt und hat nach Kriegsende im Auftrag der sowj. Besatzungsmacht 1946 den Beginn der Demontage des Betriebes eingeleitet. Die Familie war 1927 von Bitterfeld nach Piesteritz umgesiedelt und bewohnte hier verschiedene Werkswohnungen in der Coswiger Straße und bis Kriegsende 1945 Am Elbufer 21. Die dortigen Einfamilienhäuser für leitende Angestellte wurden beim Kriegsende von sowj. Besatzungstruppen geplündert und beschlagnahmt
Soweit die kurze Historie, leider verfügt das Nachfolgeunternehmen SWK über keinerlei Unterlagen aus dieser Zeit. Vielleicht trägt mein Kurzbericht dazu bei, dass die Chroniken über das Werk Piesteritz ergänzt werden können, sofern das überhaupt noch relevant ist. Freundliche Grüße aus Bayern!
Joachim Bartels
Das Bild 1 ist falsch beschriftet. Es enthält ein Datum von 1. Mai 1974 – also Bau des „Nordwerks“ im VEB Stickstoffwerk Piesteritz